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Frühling

Trügerische Üppigkeit

Besuche in der Rhön und in den Haßbergen sind für mich spätestens seit dem ersten Lockdown der Covid19-Pandemie immer mit stundenlangen Wald- und Wiesenaufenthalten verbunden. Diese Waldbäder erweisen sich dabei als ein universales Grundheilmittel: Wer sich hier genauer umsieht, erblickt unnachahmliche Kunstwerke (und das ganz für umme, wie man in Berlin sagen würde); schwindelerregende Spiralformen; erstaunliche Symmetrien; das reinste, aber dennoch „sinnvolle“ Chaos; sowie, natürlich, die untrüglichen Anzeichen von Tod und Vanitas — man denke nur an Totholz, Laubdecken, Pilzfruchtkörper und den allgegenwärtigen Humusgeruch.

Keine Angst: Ich will unsere Altersklassenwälder, Wirtschaftsforste und Holzäcker nicht verklären und idealisieren. Mit diesem Thema habe ich mich ausführlich (und unerschöpft) auf der Projektseite Neopopulismus auseinandergesetzt, dort insbesondere in den Response Papers zu Wilhelm Bodes Waldendzeit. Andererseits wird sich das hier noch genauer zu zeichnende Waldbild am Ende des Beitrags ohnehin ernüchtert haben.

Aber zurück in den Wald — jetzt, Anfang Mai, im Höchstfrühling.

Wenn man das dortige Blühen und Sprießen eine Weile aufmerksam betrachtet, so landet man quasi zwangsläufig auf einer anderen Ebene der Beschäftigung: mit der Welt und einem erweiterten Interesse an derselben. Ob das nun alleine schon heilsam ist? Das sei einmal dahingestellt. Nennen wir es vielleicht vorsichtig so: Es ist bewusstseinserweiternd, und zwar ganz ohne Esoterik.

Es ist vielmehr in einer politischen Perspektive bewusstseinserweiternd: vielleicht in einem ähnlichen Sinn, wie Mitglieder der Grünen Partei vor deren Verbürgerlichung, Veroberflächlichung und letztlich Glaubwürdigkeitsverlust dereinst durch größere Zusammenhänge motiviert waren — und deswegen oft genug für verrückt erklärt wurden. Obwohl ich einem rechten oder rechtsradikalen Spektrum gewiss irgendwie für „linksgrün-versifft“ gelten muss, habe ich tatsächlich seit längerem wenig mit der Grünen Partei oder anderen identitätspolitischen Formationen zu schaffen. Ich bin überzeugter Universalist und maße mir deshalb an, aus einer kosmopolitischen Position zu argumentieren. Darauf kann ich jetzt nicht in aller angebrachten Ausführlichkeit eingehen, aber ich denke trotzdem, dass ich kurz erklären sollte, was ich nun mit einer politischen Perspektive meine, die aus diesen Waldgängen resultieren soll.

Ich komme also im Folgenden zu einem kurzen (versprochen!) Ausflug in die Welt der Theorie. Direkt danach werde ich meine Beobachtungen trügerischer Üppigkeit einer blühenden, augenscheinlich ganz im Saft stehenden Mittelgebirgsnatur weiter unten in Wort und Bild veranschaulichen. Anschließend — Kill your darling, wie man so abgründig wie richtig sagt — werde ich das trügerische Bild zerstören (müssen).

Was soll ein „interspezifisches Inter-Esse“ bitte sein?

Die übliche Ebene meines Interesses an der Welt umfasst vor allem das politische In-der-Welt-Sein. Damit beschäftige ich mich zum Beispiel in meinem Projekt Neopopulismus. Gerade geht es dort jedoch ziemlich desillusionierend, ja fast dystopisch zu: es werden Geschichtspolitik, Erinnerungskultur, Genozid, Wirklichkeitsbeugung und dergleichen mehr verhandelt. Ich habe mir im Neopop-Projekt zwar von Anfang an vorgenommen, das Thema der progressiven Meta-Katastrophe des Klimawandels nie außer Acht zu lassen, weshalb sie schon im Untertitel des Projekts auftaucht — und auch die sogenannte interspezifische Sicherheit, die das Zusammenwirken und die Interdependenzen allen Lebens auf der Welt umfasst, ist dort als Postulat schon formuliert. Doch in der Beschäftigung mit politischen und sozialen Konflikten gerät die nicht-menschliche Welt dann doch immer wieder ins Hintertreffen, auch wenn sie heute alles andere als ein sogenanntes Sekundärproblem oder ein „Nebenwiderspruch“ ist.

Der Gang in den Wald schiebt diesem Tunnelblick einen jähen, notwendigen Riegel vor. Im Wald ändert sich die Perspektive allein durch die mehr oder weniger ausdauernde Anwesenheit schnell, wofür jedoch aufmerksame Betrachtung (ich nenne es bewusst nicht Achtsamkeit) und eine Art ungedrängter, ungestresster Hingabe nötig sind. Ich habe übrigens an menschlich begleiteten Waldgängen bemerkt, dass das aufmerksame Betrachten scheinbar gar nicht so einfach ist, weswegen mich grundsätzlich nur der Minihund in die Wälder begleitet, obwohl es auch ihm zuweilen an der nötigen Konstanz mangelt. Denn wenn der Minihund stehenbleiben will, muss auch ich stehenbleiben. Schließlich müssen Minihunde Wegmarken setzen, unnachvollziehbare Zusammenhänge unnachvollziehbar lange und ausgiebig erschnuppern, mausgemachte Bauwerke ergraben; doch wenn ich stehenbleiben muss, um zu fotografieren, wird der Minihund schnell intolerant und muss schnell weiter. Schneller, weiter, mehr.

Der Minihund in der Salbeiwiese auf dem sogenannten Zangler bei Rottenstee. Bildquelle: TS.

Für den aufmerksamen Betrachter und Beobachter, der ich im Wald zu sein versuche, verlagert sich das politische zum interspezifischen In-der-Welt-Sein. Man tritt, wo man hintritt. Man riecht, was einem der Frühling sendet; man entdeckt und erspäht, was sich einem darbietet. Man lässt sich verführen und lässt sich Zeit.

Aber zurück zur Theorie und gleichzeitig zur Praxis des In-der-Welt-Seins. Unter dem In-der-Welt-Sein verstehe ich zunächst einmal das, was Hannah Arendt als Inter-Esse, also das Dazwischen-Sein oder das Zwischen-den-Menschen, bezeichnet hat; von diesem Latein-Kompositum aus Zwischen (Inter) und Sein (Esse) stammt faszinierenderweise auch unser Wort Interesse, und somit das, wofür wir uns eben interessieren.

So bleibend klug und fortwirkend wegweisend Hannah Arendts Denken bis heute ist: Arendt dachte — wohl notgedrungen (Nazis) und auch angesichts einer wesentlich weniger spürbaren Klimaveränderung — immer vordergründig in Mensch-zu-Mensch-Beziehungen, auch wenn sie als philosophisch geschulte politische Denkerin auch immer metaphysische Kategorien miteinbezog. Man könnte vielleicht sagen, dass sie sich ganz vordergründig „nur“ für die Menschen interessierte. Ihr politisches Interesse hatte jedenfalls vergleichsweise wenig zu sagen über Zustand und Zukunft der Wälder, Agrarflächen, Steppen, Wüsten, Ozeane, Steh- und Fließgewässer, und-so-fort. Doch was sie uns hinterlässt, ist ein Verständnis der sozialen und politischen Welt, auf dem man dankbarerweise sehr gut aufbauen kann.

Ich würde genau dort nachhaken, wo Arendt (ähnlich übrigens wie der faszinierende Norbert Elias) vom Inter-Esse schreibt: Das Inter-Esse, das uns heute vordergründig beschäftigen und interessieren sollte, muss aufgrund unserer tätlichen, irreversiblen und verwerflichen Bilanz des Weltaufbrauchens ein interspezifisches In-der-Welt-Sein bzw. ein interspezifisches Inter-Esse sein. Das Politische (le politique/das Politische, nicht la politique/die Politik) wird dadurch mitnichten weniger wichtig. Es wird vielmehr erweitert um die Sphäre jener Lebewesen und Zusammenhänge, die weder kognitiv noch sprachlich am politischen Prozess teilhaben können und über Jahrhunderte ignoriert und zerstört wurden. Teilweise sind wir ja auch schon so weit — und ich denke, das haben wir tatsächlich zu einem großen Teil den (frühen) Grünen zu verdanken: In diesen Tagen etwa heißt es in den Nachrichten immer wieder, Deutschland habe — Hey: Anfang Mai! — seinen akzeptablen Ressourcenverbrauch schon verpulvert.

Dass das Ganze nicht einfach so eine optionale Form des Nachdenkens über das Sein-in-der-Welt ist, sondern vielmehr eine Zwangsläufigkeit, muss ich wohl hoffentlich nicht genauer ausführen. Schon ein Blick aus dem Zug, irgendwo im Thüringischen auf dem Weg nach Hessen, offenbart es: Wir haben das Antlitz der Erde verändert. Geologen sagen: irreversibel. Sie nennen das, wenn auch m.E. noch nicht ganz einvernehmlich, das Anthropozän, also das menschlich bewirkte Erdzeitalter. Das folgende Bild bringt für mich diesen Begriff zumindest ganz gut zu einem grafischen Ausdruck:

Bildquelle: TS (2025), irgendwo zwischen Gotha und Fulda aus dem Flixtrain aufgenommen.

Die Beobachtungen in den Mittelgebirgen

Und hier — „Cut“: Schluss mit der Theorie!

Denn eigentlich wollte ich mit diesem Beitrag zunächst einmal auf etwas Schöneres, „Harmloseres“ hinaus: auf die schiere Üppigkeit und Pracht, die sich gerade jetzt, zwischen dem 1. und 5. Mai 2025, in den Wäldern, an ihren artenreichen Rändern, auf den den Wiesen der Rhön und der Haßberge offenbaren. Und wer könnte sie ignorieren, noch dazu neben dem Gelb der Rapsfelder? Ich habe mir dieses Mal die Mühe gemacht, die meisten der blühenden Kräuter, Blumen und Stauden, denen ich begegnet bin, etwas systematischer zu fotografieren und ihre Namen zu notieren. Viele Namen kannte ich. Fast alle habe ich mit der ziemlich guten App „Flora Incognita“ überprüft bzw. herausgefunden:

(Wer sich nicht für die Namen interessiert, kann die folgende Aufzählung überspringen und gleich zu den Bildergalerien einiger besonders spektakulärer Exemplare darunter gelangen):

  • Wiesen-Salbei (Salvia pratensis),
  • Kartäuser-Nelke (Dianthus carthusianorum),
  • Kriechender Günsel (Ajuga reptans),
  • Buschwindröschen (Anemone nemorosa),
  • Gefleckter Aronstab (Arum maculatum),
  • Zwiebel-Schaumkraut (Cardamine bulbifera),
  • Ausdauerndes Bingelkraut (Mercuialis perennis),
  • Stinkender Storchschnabel (Geranium robertianum),
  • Frühlings-Platterbse (Lathyrus vernus),
  • Gold-Hahnenfuß (Ranunculus aurius),
  • Waldmeister (Galium odoratum),
  • Bärlauch,
  • Echte Goldnessel (Galeobdolon luteum),
  • Zaun-Wicke (Vicia sepium),
  • Habichtskraut (Hieracium),
  • Echte Sternmiere (Stellaria holostea),
  • Berg-Flockenblume (Centaurea montana),
  • Wald-Erdbeere (Fragaria vesca),
  • Kleines Immergrün (Vinca minor),
  • Schlüsselblume (Primula Veris),
  • Zweigriffliger Weißdorn (Crataegus laevigata),
  • Maiglöckchen (Convallaria majalis),
  • Knabenkraut (Dactylorhiza),
  • U.v.m.

Schlüsselblume (Primula Veris)

Aronstab (Arum maculatum)

Knabenkraut (Dactylorhiza)

Berg-Flockenblume (Centaurea montana)

Gemischt

Nun könnte man vielleicht angesichts all dieser Pracht schlussfolgern, dass es so schlecht um die Natur wahrlich nicht bestellt sein kann. Doch irgendwo in der Nähe der Lavaprismenwand am Gangolfsberg in der Rhön kam es, wie es kommen musste: Ich war gerade stark auf meine Kameraeinstellung konzentriert und hatte vor, etwas Totholz auf einem Geröllschutthang zu fotografieren — als mich unvermittelt ein grimmiger Waldschrat aus seinem moosbewachsenen Baum heraus direkt anzublicken schien (Jetzt nehmt mich an dieser Stelle bitte nicht allzu wörtlich! Im Sinne der freien Assoziation gibt es unten jedoch einen „Foto-Beweis“ des Waldschrats).

Seht Ihr den Waldschrat aus dem Baum blicken?

Erst schien er mit mir zu schimpfen; doch moosgefesselt, wie er war, sprach aus seinem Ausdruck nichts als das dürre Leid, dem hinter der blühenden Fassade eigentlich alle anderen Lebewesen ebenso ausgesetzt waren. Auch auf dem Kreuzberg war mir auf den prähistorisch anmutenden Geröllschutthängen mit ihrer bemoosten Bewohnerschaft schon aufgefallen, dass hier ganz eindeutig etwas nicht stimmte. Das Moos war nur noch teilweise grün; oft war es eher gelb oder braun und ziemlich vertrocknet. Jetzt, im Höchstfrühling, sollten regenreiche Märzen- und April-Wochen hinter den Wäldern liegen. Doch das genaue Gegenteil war passiert: regentechnisch nämlich so gut wie gar nichts. Ich erinnerte mich an eine Grafik, die das Katapult-Magazin auf Instagram geteilt hatte; es zeigte die Verteilung der Dürreflächen in Deutschland, von weiß (fast keine Dürre) bis hin zu braunrot (außergewöhnliche Dürre) — und fast das ganze Land war rot, dunkelrot und braunrot gefärbt. Wie weiterhin berichtet wurde, waren März und April rekordmäßig warm und dürr, besonders im Norden und Osten. Aber eben auch in Franken.

Die Lavaprismenwand am Gangolfsberg

Geröllschuttwald auf dem Kreuzberg (hauptsächlich alte Ebereschen)

Und damit komme ich abschließend endlich zur versprochenen Zerstörung dieser Bilder: Kill your darling. Am späten Nachmittag fuhr mich meine Schwester heute nach Fulda, zum Zug nach Berlin. Ohne, dass ich ihr von meinen Betrachtungen erzählt hätte (als Zwillingsschwester weiß sie im Großen und Ganzen, was ich in den Wäldern treibe), machte es auf dem kurzen Autobahnstück irgendwann unhörbar „Platsch“. Sie deutete auf die Windschutzscheibe und sagte, unvermittelt heraus aus einer politischen Tirade über die neu verkündete Minister-Show: „Ein Insekt!“. Von dem Insekt war nur ein weißlicher, organischer Fleck übrig. Sie sinnierte, dass es doch denkwürdig sei, wie wenig die Windschutzscheibe angesichts des fortgeschrittenen Frühlingswetters verschmutzt ist. Ich dachte sofort an einen Beitrag namens Morbide Wiesen auf dem „alten Blog“: „Nichts summt, zurrt, zischt, ssssst, sticht, nervt, stört. And no birds sing.“ Tatsächlich kann man auf den Bildern, die ich hier gepostet habe, sehen, dass es von Insekten alles andere als wimmelt. Auf einer Pusteblume begegnete mir eine Raubwanze; hie und da ein paar kleinere Fliegen; aber ansonsten, obwohl ich sehr auf fotografierbare Insekten gewartet habe: keine Insekten. Ich muss dazu sagen, dass bestes Wetter herrschte, mit Insekten wäre also zu rechnen gewesen. Doch abgesehen von den zahlreichen Zecken auf dem Fell des Minihunds: Fehlanzeige.

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