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Winter

Frostlosigkeit: Blick zurück auf eine Pandemie

Irgendwann im Herbst habe ich zu meinem guten Freund Philipp gesagt — in dessen verurlaubter Wohnung ich beim Schreiben dieser Zeilen sitze und schwitze — wie gut es doch wäre, in diesem Winter einmal gemeinsam mit Wanderstiefeln nach einer starken Frostnacht bei klirrend blauem Himmel über Firnis zu laufen. So, dass es unter den Sohlen gescheit knirschte, während man sich unterhielte und die (noch virusfreien) Aerosole vor sich austreten sehen könne. Ein Hauch — das war einmal etwas poetisches, harmloses, wovor man sich nicht fürchtete, bevor es versuchtem Totschlag gleichkommen würde, jemanden unbotmäßig vollzuschnaufen. Das alles war, bevor man sich sozial zu distanzieren, the-fuck-home-zu-stayen hatte. Man nähme sich noch einen Tee in einer Thermoskanne mit — eine aus der Wirklichkeit 1.0: mit zerbrechlichem Inneren, denn das ist Vintage, das ist echt; man trüge Handschuhe, man schützte sich mit einem Strickschal. Doch daraus wurde nichts: der Winter blieb ja frostlos. Noch Ende Januar blühten so einige Geranien, auf Sparflamme, sie hingen von gehengelassenen — in Gegenden mit Kehrwoche würden sie sagen: von verwahrlosten — Neuköllner Balkonen herab. 

Das bisschen Frost, vorpandemische Rhön. Bild: TS.

Noch nicht einmal in der Rhön, wo ich mich zwischen den Jahren aufhielt, habe ich ernstzunehmenden Frost angetroffen: allenfalls zarten Reif, und das auch nur auf 700 Metern, der keinen ganzen Tag bis in die frostige Nacht hinein überstand. Vielleicht hätte es in den Alpen einen gescheiteren Frost gegeben, zum Beispiel bei meinen Verwandten in Tirol, im späteren Corona-„Hotbed“. Doch für die Alpen war weder Geld, noch Energie: erschöpft und völlig ausgelaugt von allem, was vor dem 12.12.2019 war, vor der Abgabe der Dissertation, habe ich es gerade noch so nach Unterfranken geschafft. Pures Glück: Habe mich auf die Couchlandschaft geschleppt, wo am Abend vor Heiligabend das Fieber mit 40 Grad — hat kommen müssen: es war willkommen. Mein Körper brannte kurz und heftig von innen, geduldig ließ ich ihn ausglühen. Es brannte nur zwei Tage, ersparte mir gewisse Umstände. Dann war es ganz weg. 

Der ganze Druck: all die Erniedrigungen, die billigen Spaghetti, das billige Tomatenmark. Das Betteln um die Druckkostenübernahme bei der fahrigen Jobcenterin. Endlich lag ich also auf der Couch, bei meiner Schwester, bei vollem Kühlschrank. Drinnen: die warme, nadelgrüne, rot und gold dekorierte Sicherheit einer dänischen Nordmann-Tanne. Der allgemeine Flachbildschirm, die skandinavischen Krimi-Serien, in Staffeln und Episoden, Ermittlerinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, alle in Designerklamotten, mit Coffee to go. Draußen, muss ich es wiederholen, der frostlose Winter. Nichts weiß, nicht kalt: ein elendiges Beige. In Australien derweil das feuerrote Inferno eines brutalen Südsommers: Menschen flüchten an die Strände, um nicht zu verbrennen, wie die Koalas und Känguruhs. Die Welt brennt. So stapften damals die Tage hinüber in die coronische Zeit, wurden dabei allmählich wieder länger und länger. Ich wurde darüber vierzig. Früher hielt man das für alt.

Die Rhön ist immerhin ein Mittelgebirge, dessen höchste Gipfel fast an die 1000 Meter heranreichen. In mitteleuropäischen Wintern macht es einen erheblichen Unterschied, ob man sich auf 330 oder auf 750 Metern Höhe aufhält. So groß ist der Unterschied zwischen dem Wohnort meiner Schwester und dem Farnsberg, wo ich mit meinen Wanderstiefeln und mit meiner Wanderhose an eine Winterlandschaft wollte. Dort sind die Bilder meines Beitrags Wie der Frost fällt entstanden. Und wie auf ihnen zu sehen ist, ist der Frost auch dort oben sehr bescheiden ausgefallen. Auf dem nahen Kreuzberg, wo ich in diesem Frühjahr noch oft sein würde, standen die Skilifte leer und still. Im weiter nördlich gelegenen Harz, so war zu lesen, würden die Skilifte jetzt endgültig demontiert, weil die Ära des Wintersports klimabedingt vorbei sei. Es würde mich wundern, wenn den Liften am Kreuzberg und am gegenüberliegenden Arnsberg etwas anderes blühen würde. Der Klimawandel ist jetzt ganz da: das Klima ist jetzt ein anderes. 

Sind die Winter denn jetzt immer frostlos? Frostlos muss es heißen, nicht frostfrei — denn frostfrei wäre so: „In den frostfreien Berliner Wintern gedeihen Feigen, Zitronen und Palmen“, so könnte sich das anhören. Palmen und Zitronen habe ich noch keine gedeihen sehen — und wie gesagt: ich schaue hin. Feigenbäume gibt es, einer wächst in der Neuköllner Flughafenstraße. Auf der Hermannova hat jemand seinen Oleander im Kübel einfach draußen stehen lassen. Er hat überlebt, blüht gerade giftig hellrosa und erfreut sich, scheint’s bester Gesundheit. Auf dem Tempelhofer Feld hat jemand einen Olivenbaum am Rand eines Biergartens gepflanzt. Mediterran sein wollen. Auch die Olive hat den Winter, ohne Frostschutzvorkehrungen, unbeschadet überstanden: eine späte, kalte Sophie konnte ihm nichts anhaben. In Unterfranken pflanzen sie Mittelmeerzypressen in ihre Vorgärten, in den Siedlungen aus Edward mit den Scherenhänden. Makellose Säulen. Vielleicht neben einem jener Gärten des Grauens

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