Kategorien
Winter

Frostlosigkeit und kalte Sophie: Blick zurück auf eine Pandemie

Noch einen Monat lang darf es frieren — so hielten es die Alten, und so belanglos ist das heute. Die Zeit rast, die Acta Francorum stagnieren, und dieser Frühling kommt irgendwie gar nicht in die Gänge. Die pandemische Zeit ist an ihrem Ende: sogar die Warn-App warnt, warnen werde sie nicht mehr lange. Aber ich hatte ja meinen Lieblings-Lockdown: es war der erste, der härteste, wie sie sagen, der mit den vielen Stunden Wald, wie ich es hielt. In einem grellen, gelben und blauen, schließlich grünen, bald welken Frühling, als ein Biber furchtlos durch die Kleinstadt spazierte, nachdem die Autobahnbrücken ihr Gedröhne vorübergehend aufgegeben hatten. Den folgenden Text habe ich im August 2020 geschrieben. Da war gerade ein Teil der Stadt Beirut explodiert — wie zu aller Warnung. Es war wahnsinnig heiß in Mitteleuropa. Die ersten Bürger nahmen ihr Menschenrecht auf Urlaub wahr. Nicht so ich.

In der Späte des Frühjahrs, das sich in diesem Jahr völlig kraftlos, wenig merklich und in pandemischer Begleitung in unsere eigentliche Umwelt geschlichen hat, sind Wein und Walnüsse im Garten meiner Mutter erforen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: die zarten, hellgrünen Weinranken auf der Pergola — nach nur einer Frostnacht zerdatscht; die herabhängenden Blütenwürste der Nussbäume: schwarz und tot. Nur wer schon verblüht war, wie die Kirschen, die Mirabellen und die Äpfel, hatte noch eine Chance, zu fruchten. 

In Unterfranken, meines Wissens aber auch in ganz Deutschland, wird dieses Wetterphänomen nach einer Bauernregel als die Eisheiligen bezeichnet. Laut Wikipedia heißen diese späten Frosteinbrüche auch Gestrenge Herren, Eismänner oder Maifröste, die von Anfang bis Mitte Mai auftreten können, aber auch nicht müssen. Sie enden am 15. Mai mit der sogenannten kalten Sophie, deren Name auf die Märtyrerin Sophia von Rom zurückgeht, die im vierten Jahrhundert unter Diokletian gemordet wurde, wie es die Legende will. Eine schnelle Desktoprecherche warnt, sie nicht mit der Hagia Sophia zu verwechseln, der Heiligen Weisheit vom Bosporus.

Pandemie-Ostern auf dem Kreuzberg (Rhön), 2020. Bild: TS.

Die Namen der Eisheiligen — Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und Sophia — künden von einer anderen Zeit, nämlich von einer vormodernen, als die Menschen sich Wetterphänomene nicht anders als über göttliche Einwirkung erklären konnten. In ihrer Frömmigkeit mussten sie erhoffen, über die Macht der Fürbitten und durch Vermittlung verehrter Bischöfe und Märtyrerinnen Gehör dort droben zu finden. Zur Sicherheit markierte man sich die Marternamen im Kalender — und aus Heiligen wurden Wetterheilige. 

Diese vormoderne Welt, aus der die vielen Heiligenbildchen und Votivtafeln in Unterfranken noch stammen, ist blass geworden: der moderne, gebildete Mensch des Anthropozäns muss sich all diese Namen erst einmal aus der Desktop- oder Touchscreen-Recherche zusammensuchen. Von sich aus weiß er nichts über die Marter der kalten Sophie. Dennoch gibt es die Eisheiligen als Wetterphänomen „wirklich“: sie werden auch von der modernen Meteorologie anerkannt, die sie als sogenannte Singularität bezeichnet. Ihnen folgt oft noch die Schafskälte, die es im viel südlicheren Allgäu auch im Juni schon hat frieren und schneien lassen. 

Die schiere Grellheit des Frühjahrs am Arnsberg, Pandemiefrühling 2020. Bild: TS.

Soweit, so bekannt. Also alles nichts ungewöhnliches? Doch. Es hat im Mai so stark gefroren, wie die acht vorangegangenen Monate mit einem ‚R‘ im Namen nicht. Ich beobachte seit jeher das Wetter und die Pflanzen sehr genau, so auch im letzten Winter. Und ich kann mich wirklich nur an einen einzigen Tag erinnern — es muss gegen Ende Oktober 2019 gewesen sein — da ich in Berlin Frost auf einem gegenüberliegenden Dach gesehen habe. Das weite Tempelhofer Feld, wo die Meteorologen das Berliner Wetter zu Zahlen und Daten machen, lag dort täglich unbereift. Mild wie eine mediterrane Steppe. Es wollte kein „Beast from the East“ darauf toben. Bis dann die späte, nördliche Sophie ihren brutalen Hauch über die Nussblüten blies.

Irgendwann im Herbst habe ich zu meinem guten Freund Philipp gesagt — in dessen verurlaubter Wohnung ich beim Schreiben dieser Zeilen sitze und schwitze — wie gut es doch wäre, in diesem Winter einmal gemeinsam mit Wanderstiefeln nach einer starken Frostnacht bei klirrend blauem Himmel über Firnis zu laufen. So, dass es unter den Sohlen gescheit knirschte, während man sich unterhielte und die (noch virusfreien) Aerosole vor sich austreten sehen könne. Ein Hauch — das war einmal etwas poetisches, harmloses, wovor man sich nicht fürchtete, bevor es versuchtem Totschlag gleichkommen würde, jemanden unbotmäßig vollzuschnaufen. Das alles war, bevor man sich sozial zu distanzieren, the-fuck-home-zu-stayen hatte. Man nähme sich noch einen Tee in einer Thermoskanne mit — eine aus der Wirklichkeit 1.0: mit zerbrechlichem Inneren, denn das ist Vintage, das ist echt; man trüge Handschuhe, man schützte sich mit einem Strickschal. Doch daraus wurde nichts: der Winter blieb ja frostlos. Noch Ende Januar blühten so einige Geranien, auf Sparflamme, sie hingen von gehengelassenen — in Gegenden mit Kehrwoche würden sie sagen: von verwahrlosten — Neuköllner Balkonen herab. 

Das bisschen Frost, vorpandemische Rhön. Bild: TS.

Noch nicht einmal in der Rhön, wo ich mich zwischen den Jahren aufhielt, habe ich ernstzunehmenden Frost angetroffen: allenfalls zarten Reif, und das auch nur auf 700 Metern, der keinen ganzen Tag bis in die frostige Nacht hinein überstand. Vielleicht hätte es in den Alpen einen gescheiteren Frost gegeben, zum Beispiel bei meinen Verwandten in Tirol, im späteren Corona-„Hotbed“. Doch für die Alpen war weder Geld, noch Energie: erschöpft und völlig ausgelaugt von allem, was vor dem 12.12.2019 war, vor der Abgabe der Dissertation, habe ich es gerade noch so nach Unterfranken geschafft. Pures Glück: Habe mich auf die Couchlandschaft geschleppt, wo am Abend vor Heiligabend das Fieber mit 40 Grad — hat kommen müssen: es war willkommen. Mein Körper brannte kurz und heftig von innen, geduldig ließ ich ihn ausglühen. Es brannte nur zwei Tage, ersparte mir gewisse Umstände. Dann war es ganz weg. 

Der ganze Druck: all die Erniedrigungen, die billigen Spaghetti, das billige Tomatenmark. Das Betteln um die Druckkostenübernahme bei der fahrigen Jobcenterin. Endlich lag ich also auf der Couch, bei meiner Schwester, bei vollem Kühlschrank. Drinnen: die warme, nadelgrüne, rot und gold dekorierte Sicherheit einer dänischen Nordmann-Tanne. Der allgemeine Flachbildschirm, die skandinavischen Krimi-Serien, in Staffeln und Episoden, Ermittlerinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, alle in Designerklamotten, mit Coffee to go. Draußen, muss ich es wiederholen, der frostlose Winter. Nichts weiß, nicht kalt: ein elendiges Beige. In Australien derweil das feuerrote Inferno eines brutalen Südsommers: Menschen flüchten an die Strände, um nicht zu verbrennen, wie die Koalas und Känguruhs. Die Welt brennt. So stapften damals die Tage hinüber in die coronische Zeit, wurden dabei allmählich wieder länger und länger. Ich wurde darüber vierzig. Früher hielt man das für alt.

Die Rhön ist immerhin ein Mittelgebirge, dessen höchste Gipfel fast an die 1000 Meter heranreichen. In mitteleuropäischen Wintern macht es einen erheblichen Unterschied, ob man sich auf 330 oder auf 750 Metern Höhe aufhält. So groß ist der Unterschied zwischen dem Wohnort meiner Schwester und dem Farnsberg, wo ich mit meinen Wanderstiefeln und mit meiner Wanderhose an eine Winterlandschaft wollte. Dort sind die Bilder meines Beitrags Wie der Frost fällt entstanden. Und wie auf ihnen zu sehen ist, ist der Frost auch dort oben sehr bescheiden ausgefallen. Auf dem nahen Kreuzberg, wo ich in diesem Frühjahr noch oft sein würde, standen die Skilifte leer und still. Im weiter nördlich gelegenen Harz, so war zu lesen, würden die Skilifte jetzt endgültig demontiert, weil die Ära des Wintersports klimabedingt vorbei sei. Es würde mich wundern, wenn den Liften am Kreuzberg und am gegenüberliegenden Arnsberg etwas anderes blühen würde. Der Klimawandel ist jetzt ganz da: das Klima ist jetzt ein anderes. 

Sind die Winter denn jetzt immer frostlos? Frostlos muss es heißen, nicht frostfrei — denn frostfrei wäre so: „In den frostfreien Berliner Wintern gedeihen Feigen, Zitronen und Palmen“, so könnte sich das anhören. Palmen und Zitronen habe ich noch keine gedeihen sehen — und wie gesagt: ich schaue hin. Feigenbäume gibt es, einer wächst in der Neuköllner Flughafenstraße. Auf der Hermannova hat jemand seinen Oleander im Kübel einfach draußen stehen lassen. Er hat überlebt, blüht gerade giftig hellrosa und erfreut sich, scheint’s bester Gesundheit. Auf dem Tempelhofer Feld hat jemand einen Olivenbaum am Rand eines Biergartens gepflanzt. Mediterran sein wollen. Auch die Olive hat den Winter, ohne Frostschutzvorkehrungen, unbeschadet überstanden: eine späte, kalte Sophie konnte ihm nichts anhaben. In Unterfranken pflanzen sie Mittelmeerzypressen in ihre Vorgärten, in den Siedlungen aus Edward mit den Scherenhänden. Makellose Säulen. Vielleicht neben einem jener Gärten des Grauens

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert